Fast jedes fünfte Kind zeigt einen verzögerten Sprechbeginn, das heißt es kann im Alter von zwei Jahren noch nicht 50 Wörter sagen und/oder zwei Wörter miteinander verbinden; diese Kinder werden auch als „Late Talker“ bezeichnet.
Die meisten Late-Talker-Kinder beginnen mit etwa drei Jahren spontan zu sprechen: etwa ein Drittel hat den Rückstand zu diesem Zeitpunkt aufgeholt und spricht in vollständigen Mehrwortsätzen; man nennt diese Kinder deshalb „Late Bloomer“ (Spätblühende).
Mehr als die Hälfte entwickeln aus dem verzögerten Sprechbeginn aber eine Spracherwerbsstörung, d.h. die Satzbildung ist auch mit vier oder fünf Jahren noch fehlerhaft, die Lautbildung unvollständig und der Wortschatz eher klein.
Viele dieser Kinder zeigen später im Schul- und zum Teil auch im Erwachsenenalter noch Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben (Legasthenie, sekundärer Analphabetismus).
Aufgrund der Kenntnisse über diese Zusammenhänge ist es wichtig, die gefährdeten Kinder möglichst früh zu erfassen und entsprechend zu fördern.
Im Frühbereich stellt sich die Frage, wie man bei einem Kind, welches nicht oder wenig spricht, feststellen kann, ob dies der Ausdruck einer Spracherwerbsstörung ist, oder ob es sich einfach um einen Late Bloomer handelt.
Um diese Frage zu beantworten, muss zwischen Sprechen und Sprache unterschieden werden. Die Fähigkeit, vorhandene Gegenstände, Personen oder Bilder zu benennen, hat mit Sprache wenig zu tun. Was die Sprache ausmacht, ist die Möglichkeit, von Dingen und Ereignissen zu sprechen, die nicht vorhanden, d.h. an einem anderen Ort, vergangen oder zukünftig sind; dies ist die repräsentative oder symbolische Funktion der Sprache.
Zweitens geht es bei der Sprache nicht einfach darum etwas zu benennen, sondern man will mit der Sprache etwas bewirken, einer anderen Person etwas mitteilen: dies ist die kommunikative Funktion der Sprache.
Drittens besteht ein ganz wichtiger Teil der Sprache nicht im Produzieren von Wörtern und Sätzen sondern im Verstehen von dem, was andere sagen. Im Unterschied zur Produktion ist das Sprachverständnis aber nicht direkt beobachtbar, weshalb dessen Störungen oft weniger deutlich auffallen.
Mit etwa zwei Jahren beginnen Kinder an nicht Vorhandenes, Vergangenes oder Zukünftiges zu denken. Um von diesen Vorstellungen zu berichten, reichen einzelne Gesten und Wörter nicht mehr aus: sie brauchen jetzt ein symbolisches System wie die Sprache, um auszudrücken, was sie beschäftigt.
Zur gleichen Zeit haben sie über die Auseinandersetzungen mit dem Nein erfahren, dass andere Personen nicht automatisch das gleiche denken und fühlen: sie brauchen jetzt die Sprache, um ihnen ihre Absichten und Wünsche mitzuteilen.
Und ebenfalls mit etwa zwei Jahren haben sie über das Sprachverständnis entdeckt, dass Wörter sich in verlässlicher Weise auf Personen oder Gegenstände beziehen.
Es ist deshalb sicher kein Zufall, dass es mit etwa zwei Jahren zu einer eigentlichen „Sprachexplosion“ kommt. Kinder entdecken, dass sie mit den Wörtern etwas bewirken. Sie wollen jetzt sprechen, weil es für die Kommunikation notwendig ist. Sie beginnen zu fragen (was ist das? Papa wo?) und holen sich damit die Wörter, die sie brauchen. Auf diese Weise erreichen sie in kürzester Zeit die Marke der 50 Wörter und beginnen, die Wörter auch miteinander zu verknüpfen.
Einige Kinder sind im Erwerb bestimmter Fähigkeiten etwas langsamer, zum Beispiel aufgrund eines leichten motorischen Entwicklungsrückstandes. Mit zwei Jahren sprechen sie dann vielleicht noch nicht 50, sondern nur 20 Wörter. Wenn sie sich aktiv mit der Sprache auseinandersetzen und Fragen stellen, können sie diesen Rückstand aber in sechs Monaten aufholen. Dies sind die typischen Late Bloomer.
Es gibt auch Kinder, welche den Anspruch haben, von Anfang an perfekt zu sprechen. Wenn dies nicht gelingt, ziehen sie sich eine Weile „beleidigt“ zurück. Meist blühen sie aber später auch auf und zeigen ab diesem Zeitpunkt eine sehr korrekte Sprechweise.
Einigen Kindern fehlt aus unterschiedlichsten Gründen der Anreiz, Sprache unbedingt erwerben zu wollen. Sie sind in großer Gefahr, eine Spracherwerbsstörung zu entwickeln:
Einige haben Schwierigkeiten im Spiel, so dass ihr Handeln im Hier und Jetzt stecken bleibt. Sie entwickeln keine Vorstellungen und brauchen deshalb keine differenzierte Sprache, um anderen von diesen Vorstellungen zu berichten.
Einige Kinder stecken auch im Alter von zwei Jahren noch mitten in den Loslösungsprozessen und können ihre Bedürfnisse und Gefühle nicht klar erkennen und/oder von denjenigen der Bezugspersonen abgrenzen. Auch diesen Kindern fehlt die eigentliche Motivation zum sprechen lernen – meist werden sie auch ohne Sprache verstanden.
Einige Kinder setzen sich nicht oder nur wenig aktiv mit der Sprache auseinander: sie schauen nicht, was wir zu einem Ereignis sagen und zeigen nicht auf die Dinge mit dem Wunsch, deren Namen zu erfahren. Dadurch haben sie nicht entdeckt, dass sich Wörter verlässlich auf Personen oder Dinge beziehen. Das Sprachverständnis ist verzögert und damit fehlt ihnen die eigentliche Grundlage für die Entdeckung der Sprache.
Fehlen diese für die Entdeckung der Sprache notwendigen Voraussetzungen kommt es zu einem verzögerten Sprechbeginn.
Im Alter von drei Jahren beginnen die meisten Kinder aber dennoch zu sprechen – auch wenn sie im Spiel, in der Kommunikation und im Sprachverständnis immer noch Unsicherheiten zeigen.
Schaut man ihre Sprechweise genauer an, fehlen den Wörtern und Sätzen die repräsentative und die kommunikative Funktion, das heißt das Kind spricht, ohne wirklich etwas zu sagen.
Zudem wird das Gesagte nicht über das Sprachverständnis kontrolliert. Es erstaunt deshalb nicht, dass diese Sprechweise viele Fehler beinhaltet und keine gute Basis für den späteren Erwerb der Schriftsprache bildet.
Werden die Unsicherheiten im Spiel, in der Kommunikation und im Verstehen noch dazugerechnet, kann man sich vorstellen, dass die Kinder auch in ihrem Verhalten auffallen.
Zusammenfassend können die gefährdeten Kinder schon im Alter von zwei Jahren gut erfasst werden, indem man ihre symbolischen und kommunikativen Fähigkeiten sowie ihr Sprachverständnis beobachtet:
Hat ein Kind alle diese Fähigkeiten, wird es sich mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem kompetenten Spiel- und Gesprächspartner entwickeln. Fehlen die meisten dieser Fähigkeiten, sollten Eltern dies mit Fachkräften besprechen und Rat beim Experten einholen.
Dr. Barbara Zollinger